Fehler der USA in Afghanistan
Eine unabhängige Organisation untersucht Angriffe mit zivilen
Opfern und ermittelt unterschiedliche Ursachen. Die Regierung in
Kabul will mehr Einfluss auf die Ziele
WASHINGTON taz Hunderte Zivilisten sind in Afghanistan durch militärische
Fehler der US-Luftwaffe getötet worden. Dies ist das vorläufige
Ergebnis einer unabhängigen Untersuchung der regierungsuanbhängigen
US-Organisation Global Exchange in elf betroffenen Ortschaften,
berichtet die New York Times in ihrer Sonntagsausgabe. Die
Organisation habe bei ihrer sechsmonatigen Recherche 812 getöteten
Zivilisten nachweisen können. Diese Zahl werde sich vermutlich
weiter erhöhen, je mehr abgelegene Dörfer erreicht würden.
Die hohe Zahl an Opfern sei vor allem darauf zurück zu führen,
dass das Pentagon Luftangriffen lange Zeit den Vorrang gegenüber
riskanteren Bodenoperationen gegeben habe. Somit lagen entweder kaum
genaue Informationen über die Ziele vor, oder man musste sich auf
Hinweise von afghanischer Seite verlassen. Viele der Ziele seien
zudem mit übertriebener Sprengkraft bombardiert worden. Obwohl die
USA seit Anfang des Jahres vermehrt Bodentruppen auf der Suche nach
Verstecken von Al-Qaida- und TalibanKämpfern einsetzen, kam es immer
wieder zu katastrophalen Fehlern, wie Anfang Juli bei dem Angriff
auf eine Hochzeitsgesellschaft. Dabei wurden mindestens 54 Menschen
getötet.
Afghanische Politiker äußern sich zunehmend frustriert über die
Fehlschläge. Erstmals fordern sie mehr Einfluss auf zukünftige
Luftoperationen. Sie scheuen sich sogar nicht mehr, damit zu drohen,
dass bei erneuten Angriffen auf Zivilisten der Einsatz der
US-Streitkräfte begrenzt werden könnte.
Das Problem ist, dass die US-Kommandozentralen meist auf Hinweise
von regionalen Stammesfürsten oder anderen vermeintlichen
afghanischen Verbündeten angewiesen sind, deren Loyalität zu den USA
umstritten ist. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie
bewusst Fehlinformationen, die eigenen strategischen Zielen dienen,
weitergegeben haben.
US-Militärs weisen jedoch den Vorwurf nach unverhältnismäßigen
Bombenangriffen zurück. Die Gefahr für Zivilisten werde sorgfältig
geprüft. Ziele würden vor einem Angriff eindeutig identifiziert. Bei
den von Global Exchange untersuchten Orten handelte es sich nach
Lesart der US-Kommandeure immer um militärisch gerechtfertigte
Ziele.
Wurden dennoch Fehler gemacht, versagte die Öffentlichkeitsarbeit
des Pentagon. Trotz erdrückender Beweise vor Ort wurde tagelang
bestritten, dass Zivilisten ums Leben kamen. Nachgereichte
Entschuldigungen wirken dann wenig glaubhaft - auch ein Grund für
die wachsende Unbeliebtheit von US-Soldaten am Hindukusch. Das
Pentagon räumt jedoch ein, dass der jüngste Fehler die Beziehungen
zu Kabul beeinträchtigt hat. Angeblich werde man sich fortan
bemühen, zukünftige Lufteinsätze nur nach vorheriger Absprache mit
der afghanischen Regierung auszuführen.
Seit Beginn der Luftangriffe gegen Afghanistan kursieren
verschiedene Zahlen über zivile Opfer. Schätzungen gehen von bis zu
5.000 Toten aus. Eine Überprüfung gilt als unmöglich. Dennoch
dürften mehr Fälle bestätigt werden, je weiter unabhängige
Beobachter zu den betroffenen Dörfern vordringen.
MICHAEL STRECK
taz Nr. 6806 vom 22.7.2002, Seite 11, 106 Zeilen
(TAZ-Bericht), MICHAEL STRECK
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